„Flüssigkristall“- ein Widerspruch in sich?

Der Begriff „Flüssigkristall“ trägt scheinbar einen Widerspruch in sich. Ist doch der kristalline Festkörper dadurch gekennzeichnet, dass die Atome oder Moleküle, aus denen er aufgebaut ist, feste Gitterplätze einnehmen, also eine Positionsfernordnung besitzen und soweit es sich um Moleküle handelt, die eine von der Kugelform abweichende Molekülgestalt haben, auch eine Richtungsfernordnung aufweisen. Im Gegensatz dazu erwartet man in einer Flüssigkeit, d. h. der Schmelze eines Festkörpers eine statistische Verteilung der Richtungen der Moleküle zueinander und eine unregelmäßige sich stets ändernde Verteilung der Molekülschwerpunkte. Beim Schmelzvorgang werden die Positionsfernordnung und die Richtungsfernordnung aufgehoben. Eine solche Schmelze ist isotrop, d. h. die physikalischen Eigenschaften, wie z. B. der Brechungsindex oder die Permittivitätszahl sind makroskopisch unabhängig von der Beobachtungsrichtung. Der Polarisationszustand des Lichtes wird beim Durchgang durch ein isotropes Medium nicht verändert.

Ein erstes Experiment soll das veranschaulichen. Um einem größeren Zuhörerkreis die folgenden Experimente gleichzeitig zugänglich zu machen, wird empfohlen, einen Overheadprojektor mit einer Polarisationseinrichtung zu versehen, wie in Abbildung 1a dargestellt.

Abbildung 1a Polarisationseinrichtung für die Overheadprojektion

Die Polarisatoren befinden sich in gekreuztem Zustand, so dass kein Licht in der Projektion zu sehen ist. Ein Kristallisierschälchen wird mit Wasser gefüllt und zwischen die gekreuzten Polarisatoren gebracht. Beim Durchgang durch Wasser (und Glas) erfolgt keine Änderung des Polarisationszustandes des Lichtes. Das projizierte Bild bleibt schwarz. Wasser ist eine isotrope Flüssigkeit. In ein zweites Kristallisierschälchen legt man einen Calcitkristall, stellt es in den Strahlengang zwischen die gekreuzten Polarisatoren und erkennt in der Projektion Aufhellung. Bei Drehung des Schälchens ändern sich die Helligkeit. Der Kristall weist offensichtlich richtungsabhängige Eigenschaften auf, der Kristall ist anisotrop. In ein drittes Schälchen, das leer in den Strahlengang eingebracht wird, trägt man mit einem Spatel einen Tropfen eines Flüssigkristalles ein, einer milchig trüben Flüssigkeit niedriger Viskosität. In der Projektion erkennt man an den Stellen, an denen der Flüssigkristall den Boden benetzt, Aufhellung. Bei Drehung des Schälchens variiert die Intensität des durchtretenden Lichtes. Der Flüssigkristall ist anisotrop.

Abb 1b Wasser, Kristall (Calcit) und ein nematischer Flüssigkristall im natürlichen Licht

Abb. 1c Wasser, Kristall (Calcit) und ein nematischer Flüssigkristall zwischen gekreuzten Polarisatoren

Das Experiment zeigt, dass sich im flüssigkristallinen Zustand die viskosen Eigenschaften einer Flüssigkeit mit den richtungsabhängigen Eigenschaften eines Kristalles vereinen und der Begriff „Flüssigkristall“ damit folgerichtig ist. Die Ursache für die Aufhellung zwischen gekreuzten Polarisatoren beim Kristall und Flüssigkristall ist Doppelbrechung. Dass eine gießbare Flüssigkeit Doppelbrechung aufweist, erscheint im ersten Augenblick unverständlich, wird aber im Folgenden ausführlich erklärt.

Heute sind mehr als 50.000 organische Verbindungen bekannt, die beim Schmelzen nicht direkt in den isotrop flüssigen Zustand übergehen, sondern eine oder mehrere flüssigkristalline Phasen durchlaufen. Das Bauprinzip dieser Verbindungsklasse ist recht einfach. Das Molekül muss eine ausgeprägte Formanisotropie aufweisen. Es muss vier- bis sechsmal so lang sein, wie es dick ist, muss einen formstabilen starren Grundkörper besitzen, etwa wie das Benzylidenanilin oder das Biphenyl, und muss in der Längsachse mit zumindest einer flexiblen Alkylkette versehen sein, um den Schmelzpunkt herabzusetzen. Typische Vertreter der Substanzklasse der Flüssigkristalle sind das Methyloxybenzylidenbutylanilin (MBBA) und das Pentylcyanobiphenyl (5CB). Beide Verbindungen weisen bei Raumtemperatur eine flüssigkristalline Phase auf (Abb. 2).

Methyloxybenzylidenbutylanilin (MBBA)  
Schmelzpunkt: 22 °C
Klärpunkt: 47 °C  
Pentylcyanobiphenyl (5CB)
 
Schmelzpunkt: 23 °C
Klärpunkt: 35 °C  

Abbildung 2: Strukturformeln und Phasenumwandlungstemperaturen ausgewählter Flüssigkristalle

Beim Schmelzprozeß wird bei derartigen Molekülen die Positionsfernordnung, d. h. die Ordnung der Molekülschwerpunkte auf festen Gitterplätzen, aufgehoben. Es verbleibt aber noch eine Richtungsfernordnung: Die stäbchenförmigen Moleküle ordnen sich mit ihrer Längsachse vorzugsweise parallel an, wie in Abbildung 3 dargestellt. Diese Parallelorientierung der Moleküllängsachsen führt makroskopisch zu richtungsabhängigen physikalischen Eigenschaften. Da der Brechungsindex, der makroskopisch beobachtbar ist, mit der Polarisierbarkeit, einer Eigenschaft auf molekularer Ebene, verknüpft ist, ist die im Flüssigkristall auftretende Doppelbrechung leicht verständlich. In Längsrichtung des Moleküls ist aufgrund der in Konjugation stehenden aromatischen Ringsysteme die Polarisierbarkeit größer als in den beiden Achsenrichtungen senkrecht dazu, woraus folgt, dass der Brechungsindex für Licht, dessen elektrischer Feldvektor in der Ebene der Vorzugsorientierungsrichtung schwingt, größer ist, als in den beiden Richtungen senkrecht dazu. Der ordentliche Strahl ist hier derjenige mit dem kleineren Brechungsindex, der außerordentliche der mit dem größeren. Ein Flüssigkristall der nur durch Parallelorientierung der Moleküllängsachsen bei statistischer Verteilung der Molekülschwerpunkte gekennzeichnet ist, wird als nematischer Flüssigkristall bezeichnet; er ist optisch einachsig positiv.

Abbildung 3: Schematische Darstellung der Ordnungsprinzipien eines Kristalles, eines nematischen Flüssigkristalles und einer isotropen Schmelze

Erwärmt man einen Flüssigkristall, so nimmt der Ordnungsgrad in der flüssigkristallinen Phase ab. Der Ordnungsgrad ist ein Maß für die Güte der Parallelorientierung der Moleküle. Erreicht man mit der Temperatur den Klärpunkt, bricht die Ordnung diskontinuierlich zusammen und der Flüssigkristall geht über in eine isotrope Flüssigkeit, in der weder eine Positionsfernordnung noch eine Richtungsfernordnung existieren. Die im flüssigkristallinen Zustand trübe erscheinende Flüssigkeit wird klar.

Die Phasenübergänge kristallin – flüssigkristallin – isotrop flüssig lassen sich augenfällig in einem einfachen Experiment zeigen (Abb. 4).

Abbildung 4  Die Phasen des MBBA: fest, flüssigkristallin, isotrop flüssig

 Ungefähr 10 ml MBBA werden in eine Ampulle eingeschmolzen. In Eiswasser gehalten wird die Probe schnell kristallisieren. Erwärmt man die Probe in der Hand oder in warmem Wasser auf 25 bis 30 °C, so beobachtet man den Schmelzvorgang: Aus dem Festkörper wird eine milchig trübe Flüssigkeit niedriger Viskosität. Taucht man die Probe nun in ca. 50 °C warmes Wasser, so wird aus der trüben Schmelze eine klare Schmelze. Beide Phasenübergänge sind Phasenübergänge erster Ordnung; typische Werte für die Schmelzenthalpie sind ca. 50 J/g und für den Übergang zwischen der flüssigkristallinen Phase und der isotropen Schmelze ca. 2 J/g.

Der Vollständigkeit halber soll hier noch darauf hingewiesen werden, dass neben der flüssigkristallinen Phase, deren einziges Ordnungsprinzip die vorzugsweise Parallelorientierung der Moleküllängsachsen ist und die als nematische Phase bezeichnet wird, auch höher geordnete Phasen existieren, die als smektische Phasen bezeichnet werden und die neben der Parallelorientierung der Moleküllängsachsen zusätzlich eine Schichtstruktur der Molekülschwerpunkte aufweisen (Abb.5). Smektische Phasen haben dadurch eine deutlich höhere Viskosität als die nematische Phase, vergleichbar den Viskositäten von Honig bis Wachs.

Abbildung 5: Ordnungsprinzip einer smektischen Phase vom Typ A

Im Weiteren werden wir uns aber nur mit der nematischen Phase beschäftigen.

An dieser Stelle sollen zum Verständnis des nachfolgenden Experimentes mit einem Flüssigkristall die Grundlagen der Doppelbrechung an einem Kristall in Erinnerung gebracht werden. Besonders geeignet ist dazu ein klarer Calcitkristall. Der folgende Versuch kann sehr schön auf einem Overheadprojektor vorgeführt werden: Mit einem feinen Faserstift zeichnet man ein Kreuz auf eine klare Overheadfolie und legt den Calcitkristall darauf. In der Projektion erscheinen zwei Kreuze, die gegeneinander versetzt sind (Abb 6a).

Abb. 6a Demonstration der Doppelbrechung an einem Calcitkristall im natürlichen Licht

Dreht man den Kristall um eine Achse senkrecht zur Unterlage, so bewegt sich das Kreuz des außerordentlichen Strahles um das feststehende Kreuz des ordentlichen Strahles. In einer Stellung, in der die Schnittpunkte beider Kreuze versetzt sind, bringt man ein Polarisationsfilter in den Strahlengang des Overheadprojektors und zeigt, dass es möglich ist, je nach Stellung des Polarisationsfilters mal das eine, mal das andere Kreuz auszulöschen. Ordentlicher und außerordentlicher Strahl sind senkrecht zueinander polarisiert (Abbildung 6 b und 6c).

Abb. 6b und 6c  Calcitkristall im polarisierten Licht: Ordentlicher und außerordentlicher Strahl sind senkrecht zueinander polarisiert.

Auf dieser Erkenntnis aufbauend wird im nächsten Experiment der unterschiedliche Polarisationszustand des ordentlichen und des außerordentlichen Strahles in einem Flüssigkristall nachgewiesen, die Temperaturabhängigkeit des Ordnungsgrades sichtbar gemacht und die Diskontinuität des Phasenüberganges zwischen der nematischen Phase und der isotropen Phase veranschaulicht. Hierzu befindet sich der Flüssigkristall in einem keilförmigen Präparat, wie in Abbildung 7 dargestellt.

Abbildung 7 Keilexperiment zum Nachweis der Doppelbrechung im nematischen Flüssigkristall

Die Oberflächen der Glasplatten sind so präpariert, dass die Längsachsen der Moleküle in der gesamten Probe einheitlich parallel zur Kante des Keils ausgerichtet werden. Damit liegt praktisch ein flüssiger Einkristall vor. Durchstrahlt man mit einem unpolarisierten Laser diese Anordnung, so wird der Laserstrahl wie im vorangegangenen Experiment mit einem Calcit in den ordentlichen und den außerordentlichen Strahl aufgespalten (Abbildung 8a).

Abbildung 8a  Versuchsanordnung zum Keilexperiment mit graphisch eingefügtem Strahlengang

Eine Besonderheit dieser Anordnung ist aber die äußere Geometrie des nematischen Einkristalles. Durch die Keilform erhält man zwei Strahlen, die nicht parallel austreten, sondern divergieren. In einem Abstand von wenigen Metern erhält man eine Aufspaltung von größenordnungsmäßig 50 cm. Mit einem zwischen Keil und Projektionsfläche in den Strahlengang gehaltenen Polarisationsfilter wird gezeigt, dass die beiden Strahlen senkrecht zueinander polarisiert sind, indem mit dem Filter mal der eine und nach Drehung um 90° der andere Strahl ausgelöscht wird (Abbildung 8b und 8c).

Abbildung 8b, 8c und 8d  Nachweis der Doppelbrechung im Keilexperiment. Ordentlicher und außerordentlcher Strahl sind senkrecht zueinander polarisiert.

Eine genaue Analyse zeigt, dass der stärker abgelenkte Strahl, dem der größere Brechungsindex entspricht, parallel zur Vorzugsorientierungsrichtung polarisiert ist, der schwächer abgelenkte senkrecht dazu. Wieder kann aus der Struktur des Moleküls dieses Verhalten verstanden werden. In Richtung der Längsachse des Moleküls liegt ein lang gestrecktes konjugiertes Elektronensystem vor, das eine hohe Polarisierbarkeit erwarten lässt, in den beiden Achsenrichtungen senkrecht dazu eine niedrigere. Aus diesen Überlegungen ist leicht ableitbar, dass ein nematischer Flüssigkristall optisch einachsig positiv ist, d. h. naono > 0. Als weiteres interessantes Experiment bietet es sich geradezu an, den Phasenübergang nematisch – isotrop in einem solchen Keilpräparat zu verfolgen. Mit einem einfachen Haushaltsfön erwärmt man die Probe vorsichtig und beobachtet dabei, dass die beiden Laserpunkte auf der Projektionsfläche langsam aufeinander zuwandern, weil der Ordnungsgrad im Flüssigkristall mit zunehmender Temperatur abnimmt, d.h. die Moleküle zeigen im Mittel eine stärkere Auslenkung um die kurze Achse. Der Übergang zur isotropen Phase erfolgt nicht kontinuierlich, wie aus dem weiteren Verlauf des Experimentes ersichtlich wird. Bei sorgfältiger Beobachtung und langsamer Erwärmung erkennt man, dass die projizierten Punkte einige Zentimeter aufeinander zuwandern, dann direkt am Phasenübergang durch starke Fluktuationen vollständig verschwinden, um schließlich nach der Phasenumwandlung als ein Punkt wieder zu erscheinen (Abbildung 9a und 9b).

Position 1
Position 2
Position 3 Phasenübergang nematisch isotrop
Position 4 isotrop

Abbildung 9a, 9b, 9c, 9d, 9e Temperaturabhängigkeit der Brechungsindices eines nematischen Flüssigkristalles

Der Laserstrahl, der durch die isotrope Phase auf die Projektionsfläche fällt, teilt die ursprüngliche Strecke zwischen dem ordentlichen und dem außerordentlichen Strahl gerade so, dass in der isotropen Phase no2 mit zweifacher Gewichtung gegenüber nao2 eingeht.

Lässt man das Keilpräparat abkühlen, so erscheinen die beiden Laserpunkte nach einiger Zeit wieder. Die Probe muss sich allein durch elastische Rückstellkräfte im Volumen durch die definierte Randanbindung reorientieren. Die vollständige Re-orientierung der Probe dauert im Bereich kleiner Schichtdicken Minuten, im Bereich großer Schichtdicken (2-3 mm) durchaus Stunden.

Die äußerst einfachen geometrischen Verhältnisse in einem keilförmigen flüssigkristallinen Einkristall lassen es durchaus sinnvoll erscheinen, solch ein System als Modellsystem für die Kristalloptik im allgemeinen einzusetzen. In einem doppelbrechenden Ionenkristall oder einem festen Molekülkristall sind die geometrischen Verhältnisse stets viel komplizierter. Allerdings ist die Herstellung eines Keilpräparates, wie es hier beschrieben wurde, schwierig, aber mit einigem Geschick durchaus möglich.

Die Oberflächenanbindung der Moleküle erfolgt übrigens durch Reiben der sauberen Glasoberflächen in einer Richtung mit Zellstofftüchern. Die Reibrichtung bestimmt die Richtung der späteren Ausrichtung der Moleküllängsachsen. Die Ausrichtung im Volumen erfolgt bei festgelegter Randanbindung über elastische Rückstellkräfte.